Stuttgarter Nachrichten: Stuttgarter Kickers: Die bedrohte Art von der Waldau

16.11.2017

In der Regionalliga tobt der Kampf gegen den Abstieg, in der Kasse klafft beständig ein Loch

Das Geschäftsmodell der Blauen hängt mehr denn je am seidenen Faden: Eigentlich sind sie pleite. Aber irgendwer hilft immer. Die Frage ist nur, wie lange das noch gut geht.

Vereine erzählen Geschichte und Geschichten. Wie die des Metzgermeisters und Gönners Fritz Seeger, eines glühenden Verehrers der Stuttgarter Kickers. Er bediente in seinem Geschäft nahe dem Stuttgarter Charlottenplatz keinen, der mit der VfB-Nadel am Revers nach Schwartenmagen oder Leberwurst verlangte. Es ist eine dieser Anekdoten, deren Wahrheitsgehalt nicht selten in Beziehung steht mit der Anzahl der konsumierten Schorrle am Stammtisch. Aber so wie durchzechte Nächte unvermeidlich mit einem Brummschädel enden, so unbarmherzig mündet die Historie des ehemals ruhmreichen Clubs in die Realität. Angekommen in den Niederungen der vierten Liga verwalten die Treuhänder des Kickers-K die drohende Insolvenz. Sportlich wie finanziell. In der Regionalliga Südwest tobt der Kampf gegen den Abstieg, in der Kasse klafft beständig ein Loch. Von rund 2,6 Millionen Euro ist die Rede.

Immer auf Kante genäht

Das ist viel Geld für einen Verein, der traditionell viele Sympathien auf sich vereint, aber wenig potente Sponsoren. Der Etat auf Degerlochs Höhen (aktuell 1,5 Millionen Euro) ist dem Gefühl nach seit Menschengedenken auf Kante genäht. Und wenn die Naht mal wieder zu platzen droht, findet sich stets ein hilfreicher Geist mit den entsprechenden Bar-Reserven. Einst griff der Unternehmer und Präsident Axel Dünnwald-Metzler zum Scheckbuch – verknüpft mit der Frage, wie man in Stuttgart auf dem kürzesten Weg zum Millionär werden könne. Die Antwort pflegte er zähneknirschend mit zu liefern: „Indem man als Multimillionär Präsident bei den Kickers wird.“

Heutzutage gewähren Präsidiums- und Aufsichtsratsmitglieder die nötigen Kredite. Noblesse oblige. Der blaue Adel verpflichtet. Was bedeutet: Die Kickers-Bosse sind auch die größten Kickers-Gläubiger. Wenn es stimmt, was zu hören ist, dann verzichtet der hohe Rat auf sämtliche Forderungen. Das rettet zwar die Bilanz, drückt aber auf die Stimmung derer, die sie zu verantworten haben.

Könner, Kämpfer, Kameraden

Christian Dinkelacker, Spross der örtlichen Brauerei-Dynastie und Vorsitzender des Kickers-Aufsichtsrats, saugt tief Luft ein, ehe er den Reporter bittet, ja keinen Skandal zu zeichnen: „Wir haben es doch schon schwer genug.“ Und die Aussichten auf Besserung gestalten sich relativ bescheiden. Der Profifußball war schon immer ein schwieriges Geschäft. Seit jedoch die Wiedervereinigung die Ostclubs in die Ligen spülte, hat sich der Wettbewerb unterhalb der Bundesliga weiter verdichtet. Gleichzeitig sind die Preise für sportlichen Erfolg überproportional stark gestiegen im Vergleich zur Bereitschaft der Sponsoren, sich niederklassig zu engagieren. Zwar verweist Marc-Nicolai Pfeifer noch immer auf das Kickers-K mit „einer ungestützten Markenbekanntheit von 65 Prozent“, aber was hilft es schon, wenn der kaufmännische Leiter tapfer wie ein Konfirmand seinen Vers von den „Könnern, Kämpfern und Kameraden“ aufsagt. Tradition erhöht zwar die emotionale Bindung zum Produkt, ist aber kein brauchbarer Wechsel auf die ­Zukunft.

Dass seine Königliche Hoheit Herzog Ulrich von Württemberg Anfang des 20. Jahrhunderts die Schirmherrschaft über den 1899 gegründeten Club übernommen hatte, erklärt zwar den Ursprung des blauen Adels, macht die Gegner der Neuzeit jedoch um kein Haar attraktiver: Der TSV Eintracht Stadtallendorf ist eben nicht Inter Mailand. Im Gazi-Stadion verlieren sich an den Spieltagen gerade noch 3000 Zuschauer, die sportliche Darbietung verlangt die erhöhte Leidensfähigkeit des Publikums, auf der Gegengeraden fehlt das Dach, und auf der Haupttribüne maulen unentwegt die Dauerkartenbesitzer, dass früher alles viel besser war.

Die Kickers-Familie: Fluch und Segen

Uwe Pfeifer leidet seit einem Vierteljahrhundert mit seinem Verein. Der Stuttgarter Werbefachmann hat einen „Realitätsbruch“ auf den Tribünen erkannt: „Wir glauben noch immer, dass wir was Besonderes sind.“ Aber die Möglichkeiten halten den Ansprüchen nicht mehr stand. Ein ehemaliger Mitarbeiter, der anonym bleiben will, sagt: „Das Familiäre im Verein ist sympathisch, manchmal aber auch ein Problem. Es gibt auf der Haupttribüne Leute, die sich gern zum ­blauen Adel zählen, außer dem Kauf der Dauerkarte aber nichts für die Kickers tun. Trotzdem beschimpfen sie bei jeder Gelegenheit Trainer, Spieler und Funktionäre.“ Die Kritiker nähren ihren Zorn überwiegend aus den guten Zeiten des Vereins – verknüpft mit der irreführenden Frage: Warum sollte heute nicht mehr gelingen, was früher möglich war?

Die Nachwuchsarbeit unter dem einstigen Jugendleiter „Papa“ Herbert Steinbach ist legendär, in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts trugen Talente wie Guido Buchwald und Jürgen Klinsmann das blaue Trikot. Auch heute kann sich die Nachwuchsarbeit noch sehen lassen. Die Blauen standen 1987 im DFB-Pokal-Finale (1:3 gegen den HSV). Zweimal kickten sie sogar in der Bundesliga (1988/89 und 1991/92), und gar nicht so selten saßen sie den roten Brüdern aus Bad Cannstatt gefährlich im Nacken. Aber meistens dann, wenn der Ball auf dem Elfmeterpunkt lag, zielten die Blauen daneben. Bis heute zieht sich eine Dialektik durch die Vereinsgeschichte: Ist der Niedergang vorwiegend den stets prekären Umständen geschuldet oder vielmehr dem wiederkehrenden Unvermögen der Bosse? Ähnliche Fragen quälen Traditionsclubs wie den 1. FC Kaiserslautern, Alemannia Aachen, Rot-Weiß Oberhausen, den 1. FC Saarbrücken oder den SV Waldhof Mannheim. Die Antworten sind immer die gleichen.

„Es ist bei den Kickers nie gut genug im Verhältnis zu den Möglichkeiten“, sagt ein ehemaliger Funktionär, „aber wenn das Geld fehlt, muss man eben ständig Kompromisse machen.“ Es ist die eigentliche Kunst der Clubführung: mit dem kleinstmöglichen Nenner die größtmöglichen Erfolge zu feiern. Bisweilen machten die hohen Herren aber auch einfach nur kostspielige Fehler.

Zwölf Trainer in fünf Jahren

Von 2012 bis heute verschlissen die Blauen zwölf Trainer. Geschäftsführer und Sportdirektoren kamen und gingen. Vergangene Woche meldete die Clubspitze den nächsten Versuch: Der Freiburger Ex-Profi Martin Braun amtiert als neuer Sportlicher Leiter.

Unter Aspekten der Kontinuität in Personalfragen und sportfachlichen Kompetenz operieren die Stuttgarter Kickers jedenfalls auf Augenhöhe mit dem Stadtrivalen VfB – in dessen finstersten Zeiten – weshalb Teile der Fan-Gemeinde mit Liebesentzug reagieren. Vor allem Aufsichtsratschef Christian Dinkelacker genießt in den sozialen Medien die volle Aufmerksamkeit seiner Kritiker. Seine Begeisterung darüber hält sich in Grenzen. Auch der Präsident muss um seinen guten Ruf fürchten.

Rainer Lorz, ausgestattet mit dem bis heute besten juristischen Staatsexamen im Land, spricht vom „Abnutzungskampf“ in der viergeteilten Regionalliga, in dem selbst die Meisterschaft nicht den Aufstieg verspricht und bis zum letzten Spieltag niemand weiß, wie viele Teams absteigen werden. Von Berufs wegen Berater hochmögender mittelständischer Firmen, soll er selbst fast eine Million Euro im Verein stecken haben. Fast alle Gremienmitglieder bürgen mit sechsstelligen Summen. Das lässt sich eigentlich nur noch mit Eitelkeit, Idealismus und einem gewissen Hang zum Masochismus erklären: Lorz und die Seinen alimentieren ihre Ehrenämter aus dem eigenen Portemonnaie – und lassen sich dafür noch beschimpfen.

Der nette Herr Lorz

Weil die Kickers so arm sind wie eine Kirchenmaus, bittet Rainer Lorz um Verständnis: Es müsse eben jede Entscheidung sitzen. Aber der Kickers-Chef, murren sie auf der Waldau, scheue den Konflikt. „Wir sind halt ein Verein und keine Firma“, erwidert der nette Herr Lorz. Womit er bei Hermann Berger (58) auf uneingeschränkte Zustimmung stößt: Einst hat er für den VfB Stuttgart gekickt, nach einem Streit wechselte er 1979 die Farben: vom Arbeiterclub jenseits des Neckars zu den Großbürgerlichen auf Degerlochs Höhen. „Wir Blauen“, sagt er stolz, „sind wie eine Familie.“

Man möchte schützend die Hand über die Kickers halten – wie über eine bedrohte Art.

Am nächsten Montag, am 20. November, bittet der Verein zur jährlichen Mitgliederversammlung. Dann wird das Häuflein der Getreuen bei Wurstsalat und Hefe hell von roten Zahlen hören und von einem „strukturellen Defizit“. Was bedeutet, dass die Stuttgarter Kickers wieder einmal deutlich mehr ausgegeben haben, als sie verdienten. Aber die Spieler sammeln mit 2000 bis 3000 Euro Monatsverdienst (brutto) keine Reichtümer an, die Geschäftsstelle verlor nach dem Abstieg aus der dritten Liga sieben Stellen, Marc-Nicolai Pfeifer spricht von „deutlich reduzierten Ressourcen“. Es gibt den Brief der Stuttgarter Kickers an einen Geschäftsmann mit der devoten Bitte, die Rechnung über ein paar Tausend Euro in Raten abstottern zu dürfen. Das Schreiben ist das eine, das Signal das andere: Einfach so weiterwursteln geht nicht mehr.

Eine unerklärliche Liebe

Im Grunde gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Stuttgarter Kickers gliedern den Profifußball aus in eine Kapitalgesellschaft, die einem Investor den Einstieg mit zwei bis drei Millionen Euro ermöglicht. Oder sie machen es wie der frühere Ligarivale Wacker Burghausen (Regionalliga Bayern) und reamateurisieren den Spielbetrieb. Das senkt die Kosten, aber auch die sportlichen Perspektiven.

Kickers-Fan Uwe Pfeifer sagt, dass er selbst nach einem Abstieg in der Oberliga noch zu den Spielen seiner Kickers fahren würde. „Es ist eine Liebe“, seufzt er und blinzelt verlegen, „die kann man einfach nicht erklären.“